Denken ohne Box
„Wie kann man Disruption denken?“ - Bernhard von Mutius im Gespräch über Disruptive Thinking
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Wie sieht ein Denken aus, das den Brüchen und Umbrüchen unserer Zeit gewachsen ist? Es muss ein Denken sein, das Brüche und Widersprüche nicht nur wahrnimmt, sondern auch annimmt und mit ihnen umzugehen versteht. Ein Denken, das Nichtwissen und Komplexität akzeptiert. Ein Denken nicht nur out of the box, sondern ohne Box. Und ohne Geländer. Bernhard von Mutius nennt es disruptives Denken. Disruptive Thinking.
Bernhard von Mutius ist promovierter Sozialwissenschaftler und Philosoph, systemischer Berater und Senior Advisor an der HPI School of Design Thinking. Der Zukunftsdenker, der namhafte deutsche und internationale Unternehmen berät, beschäftigt sich seit Jahren mit der digitalen Transformation sowie mit der kreativen Revolution und deren Bedeutung für Menschen, Wirtschaft und Gesellschaft. Sein Hauptaugenmerk gilt der Entwicklung einer disziplinübergreifenden Denkkultur, die uns helfen könnte, mit den komplexen Prozessen unserer Zeit verständiger umzugehen. Er ist Autor mehrerer Bücher über neues vernetztes Denken und über die Schönheit der Einfachheit.
Beginnen wir vielleicht so: Der Begriff der Disruption entstammt dem Kontext der Ökonomie, nicht dem der Philosophie oder des Denkens. Was meint Disruptive Thinking - als eine erste Annäherung?
Die Idee des Disruptive Thinking ist aus der Beobachtung entstanden, dass im Management so unglaublich viel über Disruption geredet wird - und so wenig über die Bedeutung dieses Phänomens. In den letzten Jahren war es oft das wichtigste Thema in vielen Unternehmen, in Wirtschaftsredaktionen, auf Veranstaltungen: Immer, immer wieder Disruption. Meine Frage war: Wie kann man Disruption denken? Und damit verbunden: Wie sieht ein Denken aus, das den Brüchen und Umbrüchen gewachsen ist, die mit dem Wort Disruption umschrieben werden?
Clayton Christensen, der Erfinder des Begriffs, definiert Disruption ja recht eng. Für ihn ist Disruption ein bestimmtes Muster, nach dem eine Innovation den Markt aufrollt: nämlich aus dem unteren Preissegment kommend, das von den etablierten Playern vernachlässigt wird, weil sie sich auf das obere Segment konzentrieren. Ist das zu eng? Müssen wir Disruption weiter denken?
Zunächst finde ich diese Modellierung sehr spannend. Clayton Christensen trifft damit den Kern von disruptiven Entwicklungen im ökonomischen Bereich. Einmal als Bild: Da ist der Arrivierte oder Platzhirsch, wie Christensen auch sagt, dessen Erfolgskurve allmählich ansteigt - und dann kommt von unten irgendjemand aus einer kaum beachteten oder nicht für wichtig erachteten Nische, schießt nach oben und durchschlägt die Erfolgsspur des Arrivierten - dieses Bild finde ich sehr hilfreich. Zweitens - und das ist einer der stärksten Punkte - beinhaltet diese Modellierung das Thema Dilemma. Es ist eine Dilemmasituation, in der sich der Arrivierte befindet: Er sieht schon, dass sich im Markt etwas neu entwickelt, aber er sieht auch, dass es seine bisherige Geschäftsbasis zerstören könnte, würde er sich jetzt schon voll auf diese neue Entwicklung einlassen - weil seine Kunden nicht mitmachen. Er würde Geld verlieren und so seine eigene Organisation gefährden. Gleichzeitig weiß er aber auch: Wenn er sich nicht auf die neue Entwicklung einlässt, wenn er die neue Technologie nicht ernst nimmt und wenn er nicht selbst etwas wirklich bahnbrechend Neues entwickelt, dann ist sein Unternehmen möglicherweise in ein paar Jahren weg vom Fenster. Diese Dilemmasituation, finde ich, trifft den Kern des Themas. Und jetzt sind wir wieder beim Denken: Deshalb ist eines der Kernelemente des disruptiven Denkens die Fähigkeit, mit Dilemmasituationen und allgemeiner überhaupt mit Widersprüchen umgehen zu können.
Bleiben wir noch kurz beim Thema Disruption und bei Christensen. Da stimme ich zu, das ist ein sehr plastisches Bild. Auf der anderen Seite ist Christensens Definition doch sehr eng, auf eine verwirrende Weise eng, wie ich finde, wenn zum Beispiel Uber, ein Unternehmen, das allgemein als wirklich marktsprengend disruptives Unternehmen wahrgenommen wird, nicht unter seine Definition fällt.
Völlig d’accord. Diese Einschränkung halte ich auch für problematisch. Sie resultiert wahrscheinlich daraus, dass Christensen sein Modell gegen zu viele Verwässerungen, wie er das sieht, verteidigen möchte, und dabei vielleicht ein bisschen akademisch argumentiert. Zum Beispiel in seiner Einschätzung, dass Uber, weil es gleich den Mainstream-Markt in Angriff genommen hat und nicht erst das untere Preissegment, nicht zu den Disruptoren gehört. Das finde ich ein wenig an den Haaren herbeigezogen. Man muss den Begriff weiter fassen und darf Disruption nicht so verengt sehen.
Ich registriere noch eine andere Verwendungsweise des Begriffs. Im Kontext der digitalen Transformation ist der Begriff Disruption gekoppelt mit der Vorstellung exponentiellen Wachstums, das durch digitale Geschäftsmodelle ermöglicht werde. Disruption wäre dann die Marktwirkung extrem schnell wachsender digitaler Unternehmen. Stimmt diese Beobachtung? Gibt es die Begriffsverwendung?
Es gibt ein ganzes Spektrum. Begriffe werden im tatsächlichen Gebrauch nie so eng gefasst wie in der Wissenschaft. Im allgemeinen Sprachgebrauch in Wirtschaft und im Management spricht man häufig auch von "Disruptive Technologies" und meint damit auf eine sehr allgemeine Weise das Thema Digitalisierung. Meines Erachtens ist das zu allgemein. Eine andere, speziellere Begriffsverwendung zielt darauf, dass die digitalen Technologien es manchen Unternehmen ermöglichen, ein exponentielles Wachstum zu erzielen. Wir sehen das an Unternehmen wie Amazon, deren Wachstum zunächst moderat beginnt und dann immer stärker wird. Hier kommen zusätzlich zur Technologie Netzwerkeffekte zur Geltung, die Fähigkeit, gekonnt zu skalieren, sowie die lange geübte und ausgebaute strategische Kompetenz, als Plattform zu wirken. Wahrscheinlich noch ein paar weitere Faktoren wie zum Beispiel Designkompetenz, Pionierleistungen in der Anwendung der künstlichen Intelligenz et cetera.
Wichtig hierbei ist mir der Gedanke, dass die Begrifflichkeit der digitalen Transformation alleine zu kurz greift. Deshalb führe ich die Unterscheidung von digitaler Transformation und kreativer Revolution ein: Digitale Transformation meint zunächst technologische Umwälzung. Aber sie ist eben nicht nur eine technologische, sondern auch eine soziale und kulturelle. Diese Transformation gleicht - das ist meine These - in ihrer Wucht und in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung der industriellen Revolution. Sie gleicht ihr nicht nur, sondern sie ist auch selbst eine Revolution. Ich nenne sie die kreative Revolution.
Die Auswirkungen der digitalen Transformation allein sind gewaltig. Denken wir nur an die Auswirkungen datengetriebener Geschäftsmodelle. Aber das Digital ist nicht allmächtig. Es tut nur so. Es ist eingebunden in komplexe soziale Verhältnisse.
Die digitale Transformation wird verkürzt auf ihren technologischen Kern?
Wenn ich irgendwo in Unternehmen von digitaler Transformation spreche, bekomme ich sofort ein Kopfnicken. Viele glauben, man müsse nur die richtige Technologie und das richtige Geschäftsmodell einsetzen, um auf der sicheren Seite zu sein. Das heißt, man glaubt zu wissen, was in ein paar Jahren sein wird. Das ist eine Spielart des Glaubens, man könne mithilfe von digitalen Maschinen, Algorithmen und künstlicher Intelligenz der Prognostik wieder - nicht nur im kurzfristigen Kontext - einen höheren Stellenwert geben.
Kreative Revolution aber sagt: Wir haben keine Ahnung, was in fünf oder zehn Jahren passieren kann. Das Nichtwissen gehört gerade in dieser Umbruchsituation dazu. Und nur wenn wir das Nichtwissen ernst nehmen, haben wir die Chance, etwas überraschend Neues, etwas Schöpferisches, Nachhaltiges und Menschliches zu machen. Etwas, das den Druck mindert. Etwas, das sich nicht in vorgezeichneten Bahnen bewegt, die insbesondere die großen Player, die die digitale Transformation technologisch vorantreiben, vorgeben möchten.
Im Kontext digitaler Unternehmen und Start-ups gebraucht, hat der Begriff „disruptiv“ oft etwas, ich möchte fast sagen Revoluzzerhaftes, etwas Herausforderndes im Sinne von: „Wir werden es euch zeigen!“ Stimmt diese Wahrnehmung?
Wenn es authentisch ist, finde ich es gut. Wenn es predigerhaft daherkommt, überhaupt nicht. Den Jargon der digitalen Evangelisten kennzeichnet oft etwas Angeberisches, zudem Einseitiges. Da wird das Wort Disruption gleichgesetzt mit besonders radikal sein, und man meint, irgendwie Querdenken sei dann schon disruptiv.
Sicherlich gehören zum disruptiven Denken auch eine radikale Kreativität und die Fähigkeit, nicht nur out of the box, sondern auch without a box zu denken. Aber das Angeberhafte tangiert nur die Oberfläche. Es ist gar nicht originell und gar nicht unkonventionell. Und es führt dazu, dass man (a) sich selbst für zu wichtig nimmt und (b) die essenzielle Widersprüchlichkeit der Situation des Innovators nicht sieht. Man nimmt die Widersprüche nicht wahr, glaubt, man könne grundlegende Veränderungen meistern, wenn man sich nur besonders radikal aufführt. Aber das reicht nicht. Deshalb habe ich vorhin die Dilemmasituation so betont. Die Fähigkeit, Widersprüche produktiv zu machen, ist auch eine Alternative zu dem bloß Lauten, Radikalen.
Vor diesem abgesteckten Begriffsfeld können wir vielleicht jetzt genauer bestimmen: Was bedeutet die Anwendung der Idee der Disruption auf das Denken?
Diese Unterscheidung zwischen digitaler Transformation und kreativer Revolution ist für mich, je länger ich darüber nachdenke, wirklich fundamental. Wenn wir diese Unterscheidung ernst nehmen, gewinnen wir einen größeren Gestaltungsspielraum, eine größere Freiheit im Umgang mit der digitalen Transformation. Deshalb sage ich auch: Disruptive Thinking ist die Kunst und Disziplin dieser kreativen Revolution. Disruptive Thinking setzt nicht nur nachahmend auf die von der digitalen Transformation vorgezeichneten Ziele der Erhöhung von Schnelligkeit und Effizienz, sondern versteht es, kreativ und wertschöpfend Technologie und Design, Schönheit und Einfachheit zu verbinden - und dies möglichst nachhaltig.
Das war Teil 1 des Gesprächs mit Bernhard von Mutius über Disruptive Thinking. Lesen Sie am 30. November in Teil 2 des Interviews mehr darüber was Disruptive Thinking genau ausmacht.
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